15.04.
2024
Der weiße Kittel ist mehr als Schutzkleidung. Er ist ein Symbol. Das hat Claudia Jacob, die das Gläserne Labor auf dem Forschungscampus Berlin-Buch leitet, schon oft beobachtet. Jährlich besuchen etwa 14.000 Schüler:innen und Lehrkräfte das Schülerlabor im grünen Norden von Berlin. „Sie schlüpfen in eine andere Rolle, wenn sie den Kittel anziehen“, erzählt Claudia Jacob. „Als würde in diesem Augenblick der Forschergeist in ihnen erwachen.“ Ende der 90er Jahre kam der Gründungsdirektor des Max Delbrück Centers, Professor Detlev Ganten, auf die Idee, ein Informationszentrum zum Thema Gen- und Biotechnologie für Bürger:innen einzurichten. Besucher:innen sollten dort Wissenschaftler:innen bei der Arbeit im Labor über die Schulter schauen können. Doch Dr. Ulrich Scheller, damals Teamleiter Öffentlichkeitsarbeit bei der Campus Berlin-Buch GmbH (CBB), heute einer ihrer Geschäftsführer, war klar, dass Zusehen allein nicht reicht. „Um Menschen für die Forschung zu begeistern, müssen sie selbst Hand an Pipette und Reagenzglas legen können“, ist der Biochemiker überzeugt. Also wurde das Konzept noch einmal umgeschrieben.
Im April 1999 öffnete das Gläserne Labor nach dreijährigem Umbau seine Pforten in der denkmalgeschützten Remise auf dem Forschungscampus als Schülerlabor.
Mehr als 20 Experimentierkurse
Mit vier Versuchen zur Molekulargenetik ging es damals an den Start. Heute, 25 Jahre später, gibt es insgesamt sechs Labore. Damit gehört es zu den größten Einrichtungen seiner Art in Deutschland. Die CBB betreibt das Gläserne Labor gemeinsam mit dem Max Delbrück Center und dem Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie (FMP); zahlreiche Sponsoren und Partner, darunter das am Campus ansässige Strahlen- und Medizintechnikunternehmen Eckert & Ziegler, unterstützen sie dabei. Zusammen bieten sie mehr als 20 Experimentierkurse zu Molekular-, Zell- und Neurobiologie, Chemie, Radioaktivität sowie Ökologie an. „Wir gehören zu den wenigen Schülerlaboren in Deutschland, in denen Jugendliche sogar Experimente mit der Genschere CRISPR/Cas9 durchführen können“, sagt Ulrike Mittmann, wissenschaftliche Leiterin des Labors für Molekularbiologie. Weil in der Molekularbiologie unter anderem mit Zellen oder Krankheitserregern gearbeitet wird oder Organismen gentechnisch verändert werden, gelten strenge Sicherheitsvorschriften. Schulen können diese nicht gewährleisten – aber das Gläserne Labor. So führt es junge Leute an aktuelle Forschungsthemen heran.
Für alle Alterstufen ist etwas dabei
Auch jüngere Kinder im Grundschul- und Kindergartenalter kommen im Forschergarten des Gläsernen Labors auf ihre Kosten. Daneben gibt es Arbeitsgemeinschaften für Schüler:innen, Forscherferien, Vorlesungen und Laborkurse zur Studienvorbereitung. Lehrkräfte lernen in Fortbildungen neu konzipierte Kurse des Gläsernen Labors kennen. Das Max Delbrück Center bietet ihnen darüber hinaus im Format „Labor trifft Lehrer:in“ Einblicke in aktuelle Forschungsthemen und -methoden wie die Einzelzellanalyse oder Künstliche Intelligenz in der Biomedizin. Gemeinsam mit dem Max Delbrück Center, dem FMP und dem Experimental and Clinical Research Center richtet das Gläserne Labor den Regionalwettbewerb „Jugend forscht“ Berlin-Brandenburg aus – zuletzt im Februar dieses Jahres. Insgesamt 95 Schüler:innen präsentierten ihre Projekte im Max Delbrück Communications Center und erhielten im Rahmenprogramm Einblicke in die Forschungseinrichtungen und das Schülerlabor des Campus. „Wichtigstes Anliegen des Gläsernen Labors ist die Nachwuchsförderung“, sagt Ulrich Scheller. „Einerseits vermitteln wir Grundkenntnisse für alle, andererseits fördern wir besonders leistungsstarke Schüler:innen, auch um sie auf eine Karriere in den Naturwissenschaften beziehungsweise der LifeScience-Branche vorzubereiten.“ Denn Nachwuchs ist überall knapp – auch in den Forschungslaboren. Deshalb sei es wichtig, junge Menschen auf eine Ausbildung oder ein Studium in diesem Bereich neugierig zu machen, sagt Scheller. Seine Co-Geschäftsführerin Dr. Christina Quensel fügt hinzu: „Wir wollen den Jugendlichen vermitteln, dass Forschende sich nicht mit abstrakten Fragestellungen befassen, die außer ihnen niemand versteht, sondern dass ihre Arbeit die gesamte Gesellschaft betrifft.“ Deshalb stehen neben dem Schulstoff auch ethische Fragen auf der Agenda, etwa die Frage, wofür Tierversuche notwendig sind, warum bei Stammzelltherapien besondere Vorsicht geboten ist oder was der genetische Fingerabdruck über einen Menschen verrät. Der persönliche Kontakt von Forschenden und Schüler:innen ist für beide Seiten anregend. „Es ist wichtig, ab und zu aus dem Elfenbeinturm der Grundlagenforschung herauszukommen und die eigene Arbeit leicht verständlich zu erklären“, sagt Christina Quensel. „Nicht wenige Wissenschaftler:innen haben sich nach einer solchen Erfahrung für den Quereinstieg in den Lehrerberuf entschieden.“
Wie im Fußball
Für die Entwicklung der Kursinhalte arbeitet das Team des Gläsernen Labors eng mit Lehrkräften aus vier Berliner Partnerschulen zusammen. Sie unterstützen die Laborkräfte dabei, Themen der Spitzenforschung so aufzubereiten, dass sie zum Rahmenlehrplan passen. „Es bedeutet für Lehrer:innen einiges an Aufwand, sich mit einer Schulklasse auf den Weg zu uns zu machen“, erzählt Ulrich Scheller. „Sie müssen die Eltern informieren, Geld einsammeln und mit der S-Bahn nach Buch kommen. Das heißt: Wir müssen ihnen auch etwas bieten, das sie gut für ihren Unterricht nutzen können.“
Wer einmal gesehen hat, wie Claudia Jacob Schüler:innen begrüßt, die zu einem Neurobiologie-Kurs kommen, hat keinen Zweifel daran, dass das gelingt. Sie stattet die Jugendlichen mit speziellen Brillen aus und lässt sie im Foyer des Max Delbrück Communications Centers Ball spielen. Schnell breitet sich Gelächter aus. Die Brillen ändern den Sehwinkel, das Werfen und Fangen funktioniert überhaupt nicht – so fühlt es sich an, wenn unser Gehirn und das Nervensystem in die Irre geführt werden. „Ein solcher Auftakt weckt die Neugier auf das Thema”, sagt Claudia Jacob. Am eigenen Leib erfahren, was kurz danach in verschiedenen Experimenten ausprobiert wird, erleichtert das Begreifen ungemein. Biologie ist dann nicht länger ein Unterrichtsfach, sondern die Wissenschaft, die uns lehrt, wie ein Organismus funktioniert. „Das ist wie beim Fußball“, bringt es Ulrike Mittmann auf den Punkt. „Wer alle Regeln auswendig aufsagen kann und theoretisch weiß, dass das Runde ins Eckige muss, wird noch lange kein Weltmeister. Weltmeister kann nur werden, wer selbst über den Rasen sprintet.“
Praktische Arbeit wird im Gläsernen Labor deshalb großgeschrieben. Wieviel Koffein steckt in Cola, wie werden Duftöle aus Pflanzen gewonnen, wie lange braucht ein Nervenimpuls vom Gehirn bis zum großen Zeh – all dies und noch viel mehr finden die Schüler:innen unter Anleitung von Claudia Jacob oder ihrer Kolleg:innen heraus. Am Ende präsentieren sie ihre Ergebnisse vor der Klasse. Die Kursinhalte sind nicht in Stein gemeißelt, ständig kommt Neues hinzu. Dr. Bärbel Görhardt, die das Chemielabor wissenschaftlich leitet, tüftelt derzeit an zwei neuen Kursen: einem über Farbstoffe in Algen und wie man sie gewinnen kann, und einem über Enzyme, die wie Katalysatoren verschiedene chemische Reaktionen im Körper auslösen oder beschleunigen.
Einzelzellsequenzierung, Virtual Reality und KI
„Künftig möchten wir das Angebot des Gläsernen Labors noch stärker mit der aktuellen Forschung auf dem Campus verzahnen“, sagt Professorin Maike Sander, Wissenschaftliche Vorständin und Vorstandsvorsitzende des Max Delbrück Centers. Unter anderem sollen die Schüler:innen an innovative Technologien wie Einzelzellsequenzierung oder neue bildgebende Verfahren herangeführt werden. Außerdem werden Forschende einen festen Platz in den Kursen bekommen – wenn auch nicht immer persönlich vor Ort, so doch in Form kurzer Videos. Darin erklären sie ihre eigenen Experimente, die den Experimenten im Gläsernen Labor gar nicht so unähnlich sind. „So sehen die Jugendlichen, dass ihre Experimente nah dran sind an der echten Forschung“, sagt Maike Sander. Zudem kommen neue Medien stärker zum Einsatz: Beispielsweise können die Schüler:innen mithilfe von Virtual-Reality-Brillen in ein menschliches Herz hineinblicken. „Wenn sie mit eigenen Augen ein fehlgefaltetes Protein sehen und welche Kettenreaktion daran hängt, können sie viel besser nachvollziehen, wie sich das auf die Funktion des Herzens auswirkt“, erläutert Sander. Als Teil seines Graduiertenprogramms hat das Max Delbrück Center einen Kommunikationskurs gestartet, in dem die Doktorand:innen Erklärvideos und Animationen für das Gläserne Labor produzieren. Darüber hinaus möchte das Max Delbrück Center digitale Arbeitshefte und Lehrmaterialien für die Schule bereitstellen. Aktuelle wissenschaftliche und technologische Entwicklungen stärker aufgreifen möchte auch das FMP. „Ein spannendes Feld ist die künstliche Intelligenz, wo wir Projekte entwickeln möchten, die es den Schüler:innen ermöglichen, Grundlagen der KI zu verstehen, und wo wir Anwendungsbereiche in unseren Forschungsgebieten sehen“, erläutert Professorin Dorothea Fiedler, Direktorin am FMP. Und die Laborleiterinnen des Gläsernen Labors wünschen sich eine stärkere Digitalisierung ihrer Arbeit: So könnten die Schüler:innen Arbeitsanweisungen über Tablets erhalten und ihre Ergebnisse in der Cloud abspeichern sowie darüber versenden. Auch für die Mikroskopie böten die neuen Medien großartige Möglichkeiten, sagt Ulrike Mittmann: „Die eigenen Blutkörperchen nicht nur durchs Okular betrachten, sondern groß auf einem Screen – und die Aufnahme am Ende als Screensaver auf dem Smartphone mit nach Hause nehmen – das wäre doch großartig!“
Wie Wissenschaft funktioniert
Allen Beteiligten geht es darum, Leidenschaft für die Forschung zu entfachen. So auch Paola Eckert-Palvarini, Mitglied im Aufsichtsrat der Eckert & Ziegler SE. Sie hat neben dem Forschergarten auch das Radioaktivitätslabor initiiert. „Radioaktivität hat in Deutschland einen schlechten Ruf“, sagt die Strahlenphysikerin, „aus Unwissenheit.“ Die möchte sie aus der Welt schaffen. Neben Experimenten vermittelt sie praktisches Wissen. Natürliche Strahlung sei überall: „Es gibt kosmische Strahlung aus dem Weltall, radioaktive Elemente und Steine im Boden geben Strahlung ab, auch bestimmte Nahrungsmittel und sogar wir Menschen selbst.“ Von dieser natürlichen Hintergrundstrahlung gehe keine Gesundheitsgefahr aus. Anders sehe das aus bei Strahlung, die beispielsweise in Industrie und Medizin erzeugt und genutzt wird, etwa beim Messen der Dicke von Papier oder in der Therapie gegen Krebs. Davor müsse man jedoch keine Angst haben, erklärt die Wissenschaftlerin: „Denn wir können Radioaktivität messen, wir können sie sinnvoll nutzen und uns vor ihr schützen.“ Darüber hinaus will Eckert-Palvarini vermitteln, wie der Forschungsbetrieb funktioniert und was alles dazu gehört, damit Forschungsergebnisse nicht in der Schublade verschwinden. Die Wissenschaftlerin ist auch Unternehmerin. „Forschen bedeutet nicht nur, im Labor zu stehen und den eigenen Traum zu verfolgen“, sagt sie. „Es geht auch darum, Erkenntnisse und Erfindungen für die Menschen nutzbar zu machen.“ Dazu gehören Patente und Lizenzen ebenso wie Unternehmensgründungen. Die Schüler:innen fragen ihr dazu manchmal Löcher in den Bauch. „Von allen Dingen, die ich tue, erfüllen mich die Schülerkurse am meisten“, sagt Eckert-Palvarini. „Ich gehe danach mit dem Gefühl nach Hause, wirklich etwas Sinnvolles geleistet zu haben.“
Das Gläserne Labor rückt ins Zentrum von Buch
Nach 25 Jahren ist das Gläserne Labor nun auf dem Weg, über die Grenzen des Forschungscampus hinauszuwachsen. Im neuen Bildungs- und Integrationszentrum, das auf der Freifläche Groscurthstraße 21-33 in der Ortsmitte von Berlin-Buch entstehen soll, wird es drei Labore betreiben – „technisch nicht ganz so hochgerüstet wie die Labore auf dem Campus, sondern eher familientauglich ausgestattet, sodass Kinder spielerisch an naturwissenschaftliche Themen herangeführt werden können“, erklärt Ulrich Scheller. Das Gläserne Labor rückt
damit ins Zentrum von Buch und übernimmt eine weitere gesamtgesellschaftliche Aufgabe am Zukunftsort: Menschen jeden Alters nahezubringen, wie Wissenschaft funktioniert. Ihnen vor Augen führen, dass es zum normalen wissenschaftlichen Diskurs gehört, wenn Forschende unterschiedliche Ansichten vertreten. „In der Forschung führen nun einmal viele unterschiedliche Wege zum Ziel“, sagt Christina Quensel. „Dabei kann es passieren, dass neues Wissen alles auf den Kopf stellt, was wir bis dahin zu wissen glaubten. Diese Zukunftseuphorie wollen wir an die Menschen weitergeben.“ So sieht es auch Dorothea Fiedler: „Wir wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch Neugier wecken und die Fähigkeit fördern, wissenschaftliche Methoden anzuwenden und zu hinterfragen.“ Das ist auch Claudia Jacob wichtig – „gerade heute, da so viele Wissenschaftsskeptiker auf den Plan treten und ihre alternativen Wahrheiten verbreiten.“ Selbst einmal in einen Kittel und damit in die Rolle von Forschenden zu schlüpfen, kann dabei helfen, sich ein fundiertes Urteil zu bilden.
Text: Jana Ehrhardt-Joswig / CBB
Zuerst erschienen in der buchinside 1/24
Foto: Peter Himsel